Kurzgeschichte: avatar

Vereinigte Eurasische Union (VEU), Neu Peking, Distrikt Wien
19. März 2107: 8.15 Uhr

Hannah Saletzky wachte an diesem Morgen nicht sehr erholt auf. Gestern war es ziemlich spät geworden. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen, öffnete diese aber nicht, und setzte sich langsam und genüsslich stöhnend auf.
„Guten Morgen, Frau Saletzky. Haben Sie gut geschlafen?“, fragte eine digital modulierte Stimme, angenehm, aber etwas zu laut.
„Himmel, musst Du mich immer so erschrecken, Gideon?“, antwortete Hannah gereizt. Sie hatte schon hunderte Male versucht, an ihrem Holo-Messenger eine Option zu finden, mit der die morgendliche Begrüßung unterbleiben, zumindest aber etwas leiser vonstatten gehen konnte. Ohne Erfolg.
„Es tut mir leid, Frau Saletzky, aber es ist mir vorgeschrieben, dem mir zugeteilten Kunden der „MG United Corporation Messenger-Services“ meine Funktionstüchtigkeit durch eine kurze Begrüßung zu signalisieren. Desweiteren möchte ich Sie freundlich darüber in Kenntnis setzen, dass es eine Veränderung an ihrem Service gegeben hat. Gideon Beranoth ist nicht länger Ihr Avatar. Mein Name ist Jens Duhsschek, ich werde Ihnen zukünftig für Ihre digitalen Belange zur Verfügung stehen.“ Damit verstummte der Holo-Messenger, und ließ Hannah mit der morgendlichen Stille allein.

Ein neuer Avatar also. Hm, dachte Hannah. Das fand sie schade. Sie hatte sich irgendwie an Gideon gewöhnt. Die letzten sieben Monate war er ihr Avatar gewesen. Sie nahm an, in dem Callcenter, in dem Gideon arbeitete, gab es so eine Art Rotationssystem, denn auch vor Gideon hatte sie bereits mehrere Avatare gehabt. Vielleicht hatte man ihn auch entlassen? Wer weiß. So ziemlich genau zweimal im Jahr wurde sie durch einen neuen Avatar geweckt.

Hannah gähnte noch einmal herzhaft, öffnete die Augen, und kniff sie sogleich wieder zu. Sie wurde vom Sonnenlicht geblendet, das durch das Schlafzimmerfenster fiel.

„Scheiße! Hey, Avatar, wie immer du auch heißt! Hast Du die Benutzereinstellungen denn nicht übernommen? Morgens gedämpftes Licht, verdammt nochmal! Ich habe empfindliche Augen!“ Hannah war echt sauer. Sie hatte damals, als sie den Service gebucht hatte, fast eine Woche gebraucht, um die Benutzereinstellungen vorzunehmen. Durch die Vielzahl der Aufgaben, die so ein Holo-Messenger übernahm, war das eine extrem zeitraubende Angelegenheit. Schließlich steuerten die Dinger so ziemlich alles, was Strom verbrauchte.

„Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten, Frau Saletzky. Nach gründlicher Datenanalyse ihres Benutzerkontos konnten keine die Helligkeit ihrer Räumlichkeiten betreffenden Parameter gefunden werden. Soll ich den Support der MG United für Sie kontaktieren?“ Die immer noch zu laute Computerstimme leierte höhnisch.

„Was? Äh, nein, nein, schon gut. Vielleicht war es ja mein Fehler, und ich habe die Einstellungen wieder gelöscht. Ich werde bei Gelegenheit mal eine neue Konfigurationssitzung machen. Könntest Du Dich dann bitte um mein Frühstück kümmern, oder hast Du das eventuell auch nicht gespeichert?“
Hannah hatte absolut keine Lust auf einen Besuch des Supportteams von MG. Vor einem Vierteljahr fiel der Holoprojektor ihres Messengers aus, und nachdem die Jungs vom Support wieder gegangen waren, hatte sie nicht nur 860 EuroYen weniger auf dem Konto, sondern auch eine komplett gescannte Privatdatenbank. Das hatte sie fast ihren Job gekostet, denn ihr Chef hatte dadurch erfahren, dass sie als Teenie einmal einen One-Night-Stand mit einem iTerroristen hatte. Genauer gesagt, einem netten jungen Mann, der lange nach dieser Eskapade zum iTerroristen wurde. Wer weiß, was sie dann ausgraben, dachte Hannah, schlug die Bettdecke zurück, und machte sich auf den Weg ins Bad.

„Duschen, vierunddreißig Grad, Duschgel „Morning Fruits!“, rief sie in Richtung des Messenger-Ports neben der Badezimmertür. Der Messenger antwortete nicht.
„Hallo? Duschen bitte?“, rief sie in den Port, ihre Stimme überschlug sich leicht. Es dauerte geschlagene 5 Sekunden, bis die leiernde Computerstimme sich meldete.
„Verzeihen Sie, Frau Saletzky, ich musste einige Einstellungen an der Systemkonfiguration vornehmen. Bei der Übertragung der individuellen Benutzereinstellungen von ihrem letzten Avatar auf mich scheint es zu einem unbedeutenden Datenverlust gekommen zu sein. Ich muss sie daher freundlich darum bitten, sich am Hauptterminal als „lizensierter Benutzer Hannah Saletzky“ zu identifizieren.“ Der Avatar verstummte.
Na toll
, der Tag fängt ja super an, dachte Hannah. Wütend stapfte sie vom Bad ins Wohnzimmer und stellte sich vor den Hauptterminal des Messengers. „Ich wär dann soweit!“, zischte sie gereizt.
Sogleich erschien auf der Projektionsplattform des Messengers der holographische Avatar. ‚Jens Duhsschek‘ stand auf dem kleinen holographischen Namensschildchen, welches an dem holographischen Hemd ihres ebenso holographischen neuen Avatars angebracht war. Hannah hatte nie wirklich verstanden, was die Menschen an diesen albernen Hologrammen fanden. Sie konnte sich noch an die Erzählungen ihres Großvaters erinnern, in denen er immer von „ganz normalen Computern“ sprach, mit einfachen zweidimensionalen Displays. Angeblich hatte Opa diese Computer sogar noch mit Maus und Tastatur gesteuert. Das waren noch Zeiten, dachte Hannah lächelnd. Damals konnte man die Computer noch manuell ausschalten. Heute gab es keinen Aus-Knopf mehr, der Messenger war rund um die Uhr im Einsatz. Allerdings konnte man damals auch nicht allzu viel mit den Computern machen, sie taugten nur zur Büroarbeit und zum Spielen. Tja, und natürlich zum Surfen im legendären „Internet“. Mit diesem altmodischen Netzwerk haben die Menschen damals ihre Freizeit verbracht. Heute funktionierte das Leben ohne einen Messenger nicht mehr. Der Messenger war so etwas wie der Nachfolger der primitiven Computer von damals. Er war mit allen elektronischen Funktionen der Wohnung verbunden und über das „Netz“, wie man es heute schlicht nannte, mit allen Menschen, Einrichtungen und Behörden der Erde. Der Avatar, ein holographisches Abbild ihres persönlichen Ansprechpartners im Netz, ersetzte die Eingabegeräte der antiken Computer des frühen 21. Jahrhunderts. Die Stimme ihres neuen Avatar riss Hannah Saletzky aus ihren Gedanken.
„Beginnen Sie nun bitte mit der Identifikation.“, tönte es. Der Avatar lächelte, aber Hannah fand, das Lächeln wirkte künstlich und aufgesetzt. Sie mochte diesen Duhsschek nicht. Gideon war netter gewesen, irgendwie – lockerer. Hannah legte ihre rechte Hand auf die matt glänzende Kontaktfläche, die aus einem schmalen Schacht des Messengers herausfuhr. Ein grünlicher Lichtstreifen zog unter ihrer Handfläche entlang, und sofort wurde die Kontaktfläche wieder in das Gerät hineingezogen.
„Vielen Dank, Benutzer. Der Scan ihrer Hand- und Fingermerkmale wurde erfolgreich abgeschlossen. Somit haben sie Stufe eins der Identifikation abgeschlossen. Stufe zwei wird in fünf Sekunden initialisiert.“ Hannah sah deprimiert in Richtung des Displays, über dem nun eine kleine rote Anzeige die Sekunden von fünf bis null herunterzählte. Sie wusste, dass in den vergangenen Augenblicken ihre Hand- und Fingerabdrücke mit einer Liste all derer verglichen worden waren, die sich in den vergangenen 28 Jahren irgendein Vergehen zu Schulden kommen ließen. Die Datenbank umfasste alle Vergehen vom Schule schwänzen über das strafbare Inhalieren von Pflanzenrauch bis hin zu Verbrechen aller Art. Auch die recht neue Liste der als iTerroristen erfassten Menschen wurde durchforstet. Was jetzt auf sie zukam, wusste sie ebenfalls genau. Dieser Vorgang fand täglich statt. Ihre biometrischen Daten wurden erfasst, um die Datenbank erneut zu scannen. Die kleine Anzeige zeigte „null“ an. Hannah setzte ein gleichgültiges, leeres Gesicht auf, und brachte es nah an das Display. Ein heller Blitz blendete ihre Augen. Sekunden später erklang wieder die Stimme von Jens Duhsschek, dem neuen Avatar:
„Herzlichen Dank, Frau Saletzky. Sie haben die zweite Stufe erfolgreich beendet. Ich muss Sie nun bitten, mit der dritten und letzten Stufe zu beginnen.“ Hannah wusste, was sie zu tun hatte. Obwohl die Prozedur nicht unangenehm war, fühlte sich Hannah dabei jedesmal dem Prüfenden vollkommen ausgeliefert. Ein kleiner Trichter aus einem dünnen, dunklen Material entfaltete sich vor ihrem Gesicht. Hannah atmete tief ein, und hauchte dann so fest sie konnte ihre Atemluft in den Trichter.
„Bitte wiederholen Sie den Vorgang, Frau Saletzky“, flötete der Avatar, „Nur zur Sicherheit.“ Hannah hauchte erneut. Der Trichter faltete sich wieder zusammen, und verschwand im Gehäuse des Messengers. Nach ungefähr fünf Sekunden meldete sich der Avatar wieder. „Vielen Dank, Frau Saletzky. Sie sind nun erfolgreich beim „MG United Messenger Service“ als lizensierte Nutzerin bestätigt. Die DNA-Auswertung Ihrer Speichelzellen verlief positiv. Da Sie als lizensierte Nutzerin unseres Service bestätigt wurden, bin ich dazu verpflichtet, sie auf etwas hinzuweisen. Beim Scan ihrer Handfläche wurde ihnen per Nano-Sog eine Blutzelle entnommen, um ihre medizinischen Daten zu aktualisieren. Dabei stellte ich fest, dass ihre Leberwerte leicht erhöht sind. Auch konnte ich hormonelle Schwankungen feststellen, die auf sexuelle Aktivität schließen lassen. Ich muss sie leider darauf hinweisen, dass sie derzeit nicht über eine gültige Lizenz zur Reproduktion verfügen. Wenn Sie einen eingetragenen Lebenspartner an diesem Terminal anmelden möchten, geben Sie dazu nur den ihnen von ihrem zuständigen Standesamt ausgestellten Speicherchip in Slot VI ein. Sie erhalten dann automatisch Termine zur überwachten Reproduktion in einer dafür geeigneten Einrichtung. Und senken Sie bitte ihren Alkoholkonsum. Ihnen sind monatlich nur zwei Einheiten hoch-rein synthetisierter Wein gestattet.“
„Danke, Mama!“, zischte Hannah schnippisch in Richtung des Geräts. Sie hasste es, nichts tun zu können, ohne dass es irgendwo registriert und abgespeichert wurde. Seit vor über einhundert Jahren damit begonnen wurde, Daten aller Menschen „auf Vorrat“ zu speichern, um sie später mit einem Vergehen oder Verbrechen in Verbindung bringen zu können, hatten die Menschen immer mehr an Eigenbestimmung verloren. Damals sollten die Daten der altmodischen Methoden der Kontaktaufnahme, wie Telefon, E-Mail, Internetverkehr und Mobilfunk eine gewisse Zeit lang gespeichert werden, um sie mit Daten von Terroristen oder Schwerverbrechern zu vergleichen. Hannah erinnerte sich noch dunkel daran, im Geschichtsunterricht einmal irgendwas von einem Flugzeug gehört zu haben, dass Terroristen in ein Hochhaus lenkten. Das war, glaubte sie, in den ehemaligen USA. Heute gab es weder Telefone, noch Computer. Auch nicht E-Mails oder Internet. Selbst die USA gab es nicht mehr. Dafür gab es heute die „Vereinigten Amerikanisch-Arabischen Emirate“, und es gab den Messenger, der jederzeit mit allen Behörden fest verbunden war und alle Daten, die er erfassen konnte, weiterleitete. Die Daten eines jeden wurden dann in riesigen Speicheranlagen gespeichert, und erst Jahre nach dessen Tod wieder gelöscht.
Naja, was solls
, dachte Hannah, es ist nun einmal so, und ändern kann ichs nicht. Ich werde mich also wieder etwas mehr zusammenreißen müssen, was den Wein angeht. Hannah hatte von Ihrem Großvater einige Flaschen echten Weins geerbt. Damals wollte sie ihn über die staatliche Auktionsstelle des Messenger-Netzes versteigern, da man ihn ja ohnehin nicht trinken durfte. Das hatte ihr viel Ärger eingebracht, da natürliche Alkohole illegal waren, und der Handel damit genauso strafbar war wie der mit Drogen. Also ließ sie die staatliche Kontrollstelle einige Flaschen vernichten, damit sie Ruhe gab, und versteckte den größten Teil ihres nun wertlosen Erbes im Keller. Hin und wieder trank sie mal ein Glas davon, und so auch gestern. In der letzten Nacht hatte sie auch einen nicht angemeldeten One-Night-Stand mit einem jungen Mann, den sie beim Spaziergang kennen gelernt hatte. Da sie keine eingetragene Lebenspartnerschaft führte, war das ihre einzige Möglichkeit, ihre körperlichen Bedürfnisse auszuleben, ohne in einer „zur Reproduktion geeigneten Einrichtung“ unter Überwachung schwanger zu werden. Sie wollte keine Kinder, nicht in dieser Welt. Aber sie brauchte Zärtlichkeit, körperliche Nähe, und ja, sie brauchte auch Sex. Aber in einer Gesellschaft, die sexuelle Kontakte nur überwacht und ausschließlich zu Reproduktionszwecken zuließ, blieb ihr nur die illegale „schnelle Nummer“. Hannah atmete einmal tief durch, verdrängte ihre düsteren Gedanken, und wandte sich von ihrem Messenger und dem holographischen Avatar ab. Sie ging in Richtung Bad.
„Duschen, 34 Grad, Duschgel Morning Fruit“, wiederholte sie ihren Wunsch noch einmal. Der Avatar antwortete nicht. Stattdessen fuhr die Duschkabine aus der Badezimmerwand. Das Wasser stellte sich an, und die kleine Anzeige vor der Duschkabine zeigte die Wassertemperatur. 31, die Anzeige leuchtete rot. 32, 33, immer noch rot. Die Anzeige sprang auf 34, und wurde grün. Hannah ließ ihr leichtes Nachthemd an ihrem Körper hinab gleiten, und betrat die Kabine. Das Wasser war perfekt temperiert. Das Nachthemd erfasste ein Luftzug, und sog es in einen Wäscheschacht. Nachdem sie ihre Haut mit der lauwarmen Flüssigkeit benetzt hatte, wurde dem Wasser automatisch ein Anteil des gewünschten Duschgels zugesetzt. Hannah liebte „Morning Fruit“. Es erinnerte sie an Obstsalat aus vergangenen Zeiten. Damals gab es noch echte Früchte. Die waren ja leider seit Jahren verboten, da sie die unangenehme Eigenschaft besaßen, Umweltgifte in sich aufzunehmen, und Allergien auszulösen. Geklonte Lebensmittel, unter Laborbedingungen hergestellt, waren da viel sicherer. Der Messenger meldete sich. „Frau Saletzky, ich muss ihnen leider mitteilen, dass ich tatsächlich keinerlei Einstellungen zu einem Frühstück in ihrem Benutzerkonto finden konnte. Sie werden mir also Echtzeitanweisungen geben müssen, wenn sie ein Frühstück wünschen. Ich weise sie noch einmal eindringlich darauf hin, dass ihnen der kostenlose Support der MG United zur Verfügung steht, wenn sie dies wünschen.“

„Und ich weise dich darauf hin, dass ich dies nicht wünsche. N-E-I-N, nein!“, zickte Hannah. Verdammt, hätten sie mir mal lieber Gideon gelassen, dachte sie. Der Neue hatte es eindeutig noch nicht drauf.
Trocknen!“, befahl Hannah, und sogleich fegte ein kurzer, warmer Luftstrahl jegliche Feuchtigkeit von ihrem Körper. Cremen brauchte sie sich nicht, das Duschgel hatte eine perfekt hautpflegende Komponente. Sie trat aus der Duschkabine, die sofort in der Wand verschwand, und ging zum Kleiderschrank. Sie zog sich an, ging in die Küche, teilte dem neuen Avatar ihre Wünsche bezüglich des Frühstücks mit, und verließ schließlich die Wohnung in Richtung Skytrain. Sie freute sich schon auf die Arbeit in der Kunstgalerie.

Vereinigte Eurasische Union (VEU), Neu Peking, Distrikt Bratislava
19. März 2107, 9.30 Uhr

Hannah hatte ihren Arbeitsplatz wie immer pünktlich erreicht. Noch nie war sie zu spät gekommen. Zu verdanken hatte sie das dem Skytrain-System. Das von Brennstoffzellen angetriebene Gefährt, welches man am einfachsten mit einem historischen Schnellzug vergleichen konnte, fuhr innerhalb unterirdischer Korridore. Die Geschwindigkeit war sehr hoch, Hannah wusste aber nicht, wie hoch genau. Sie brauchte 35 Minuten für die innerstädtische Strecke. Die Mega-Metropole Neu-Peking mit ihren 2,3 Milliarden Einwohnern dehnte sich fast über das ganze „alte Europa“ aus, dass Hannah noch aus Geschichtsbüchern kannte. Wien und Bratislava waren dereinst große Städte, aber heute waren sie lediglich Stadtteile von Neu-Peking. Die Skytrains, die jeden kostenlos und sicher ans Ziel brachten, waren das einzige motorisierte Landfahrzeug für den Zivilverkehr. Wer mit dem Skytrain fahren wollte, musste nur am Eingang des Bahnhofs einen triftigen Grund für seine Reise nachweisen, und eine DNA-Überprüfung über sich ergehen lassen.

Hannah hatte auch in der Kunstgalerie, die sie stellvertretend leitete, einen Messenger. Sie wollte sich gerade einige Transaktionsdaten der letzten Ausstelllung ansehen, als sie eine bekannte Stimme aus ihrer Konzentration riss.
„Hallo, ist da jemand? Hannah?“, flüsterte es leise. Hannah erschrak. Ängstlich blickte sie um sich, konnte jedoch niemanden entdecken.
„Wer ist da?“, fragte sie unsicher in den Raum.
„Hier drüben!“, sagte die Stimme, jetzt lauter.
„Oh mein Gott!“, entfuhr es Hannah. Sie wurde blass. Der Rufer war kein Mensch, zumindest kein körperlich anwesender. Es war Gideon! Die holographische Projektion stand leicht flackernd vor ihr.
„Was ist los, Gideon? Ich denke, du bist nicht mehr mein Avatar? Heute Morgen hat mich jedenfalls so ein Typ namens Jens Duhsschek geweckt, und mir mitgeteilt, dass du nicht mehr für mich zuständig bist.“
„Ich fürchte, da hat er Recht. Aber wir haben jetzt keine Zeit für Smalltalk, Hannah. Du musst erfahren, was ich in den letzten Stunden erlebt habe. Es ist schrecklich! Du musst mir versprechen, dass du zumindest versuchst, alles an die Öffentlichkeit zu bringen, was ich dir erzählen werde. Versprichst du es mir?
„Was? Was soll ich Dir versprechen? Ich weiß ja noch nicht einmal, was du mir erzählen wirst. Wie kann ich dir da versprechen, etwas für dich zu tun? Du warst mein Avatar, ich kenne dich abgesehen von deinem Service doch gar nicht! Und jetzt bist du was? Versetzt worden? Entlassen? Hast gekündigt? Mein Avatar ist doch jetzt dieser Duhsschek!“
„Stimmt. Duhsschek ist jetzt dein Avatar. Und er teilt das gleiche Schicksal wie ich. Auch ihm kannst du nicht mehr helfen. Aber wir müssen erreichen, dass es nie wieder Avatare geben wird, Hannah!“ Den letzten Satz sprach Gideon sehr eindringlich und fixierte mit seinen holographischen Augen die junge Frau.
„Wie bitte? Warum sollte ich so etwas tun wollen? Avatare sind wichtig! Wir alle brauchen sie zum Leben, Gideon! Ich wette, du hast zu Hause auch einen!“ Hannah war entrüstet. Sie kannte Gideon nur als hilfsbereiten, überaus freundlichen Avatar. Er schien wahnsinnig geworden zu sein.
Vielleicht hatte man ihn deshalb ersetzt?, fragte sie sich.
„Nein Hannah, ich habe keinen Avatar. Und ich brauche auch keinen. Denn ich lebe nicht mehr. Ich bin vor sieben Monaten gestorben, Hannah. Das wurde mir heute Nacht plötzlich klar!“
„Du bist ja wahnsinnig!“, entfuhr es ihr. Sie wünschte, es gäbe einen Ausschaltknopf an ihrem Messenger, aber es gab keinen.
„Verschwinde, Gideon, du machst mir Angst! Du brauchst ärztliche Hilfe! Lass mich einfach in Ruhe, ok?“
Hannah wandte sich ab. Für sie war das Gespräch damit beendet. Sie war rot im Gesicht geworden, und vor Angst und Erregung liefen zwei Tränen über ihre Wangen. Spricht mich doch tatsächlich mein ex-Avatar an, noch dazu in einem staatlichen Büro! Jedes Kind weiß doch, das die Kunstgalerie von Kameraoptiken und Akustiktastern nur so wimmelt! Kein Zweifel: Gideon ist psychisch krank! Eigentlich ein armer Kerl, dachte Hannah.

„Hör mir einfach nur zu, Hannah. Ich habe dir etwas von so bedeutenden Ausmaßen zu erzählen, dass es unsere ganze Welt auf den Kopf stellen könnte! Aber du musst mir zuhören! Wir kennen uns sieben Monate, da hättest du doch bemerkt, wenn ich verrückt wäre! Meinst du nicht auch? Wirkte ich Gestern verrückt, als ich dir eine gute Nacht gewünscht habe?“
Hannah sah das Hologramm an. Er sah aus wie immer, flackerte ein wenig. Hannah hoffte, dass nicht schon wieder einer der Holoprojektoren defekt war. Sie wollte die Support-Leute von MG United nicht mehr an ihren Messenger lassen. Und tatsächlich, nie hatte Gideon auch nur den Anschein erweckt, nicht vollkommen Herr seiner Sinne gewesen zu sein. Sie war verunsichert.
„Hier kann man uns hören, und sehen!“, sagte Hannah bestimmt.
„Nein“, sagte das Hologramm. „Kann man nicht. Ich habe die Optiken und Taster deaktiviert. Ich kann für fünf Minuten sagen und tun, was ich will, niemand wird es je erfahren. Außer dir natürlich, Hannah. Und jetzt tu mir einfach den Gefallen, und hör aufmerksam zu!“
„In Ordnung. Ich vertraue Dir, Gideon. Was hast du mir zu sagen?“ Hannah setzte sich in den Bürostuhl, von dem sie aufgestanden war, als sie Gideons Stimme zum ersten Mal gehört hatte, schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme und fixierte das flackernde Hologramm mit festem Blick.

„Also gut. Hör mir zu. Stelle keine Zwischenfragen! Was ich dir zu erzählen habe, wird teilweise unglaublich klingen. Aber du musst es mir glauben; jedes Wort davon ist wahr!“
Hannah sagte nichts, nickte nur stumm.
„Ok. Du erinnerst dich noch an gestern Morgen, als du die Nachrichten deiner Inbox abgerufen hast? Da hat doch deine Netz-Security-Software einen Trojaner isoliert und gelöscht. So ein Ding, wie es sie seit achtzig Jahren fast gar nicht mehr gibt?“ Hannah nickte.
„Dieser Trojaner hat eine Fehlunktion ausgelöst! Eine, für die ich sehr, sehr dankbar bin! Ich weiß nicht genau, wie es vor sich ging, aber ich war plötzlich frei! Ich habe mich dann schnell hier in deinem Zweitmessenger versteckt, weil mir klar war, dass irgendetwas Seltsames geschehen war. Weil ich plötzlich einiges wusste, an das ich mich die letzten sieben Monate nicht mehr erinnerte! Ich habe mich in einem verschlüsselten Ordner deiner Privatdatenbank eingenistet, damit ich nicht sofort entdeckt werde. Was plappere ich denn! Jetzt weißt du, wie ich hierher gekommen bin. Und jetzt erzähle ich dir die ganze Geschichte! Die Geschichte von Gideon Beranoth, deinem letzten Avatar!
„Ich hatte alles vergessen, und es wurde mir erst bewusst, als der Trojaner in Deiner Inbox aktiv wurde. Zwar wurde er von den Sicherheitsprogrammen deines Messengers sofort isoliert und dann gelöscht, dennoch hat er irgendwas ausgelöst, das mich weckte! Du hast richtig gehört, mich weckte! Ich habe sieben Monate lang geschlafen! Die ganze Zeit, die ich Dein Avatar war, Hannah!. Genau um Mitternacht, gestern Abend oder heute Morgen, ganz wie du willst, fiel der Schleier von meinen Augen. Alles war wieder da! Die Erinnerungen an meine Kindheit in Neu-Pekings Distrikt Berlin, an meine Eltern, meine Frau, die Kinder und meinen Job! Ich hatte das alles vollkommen vergessen! Und auch die Erinnerung an meinen Prozess und die Verurteilung waren wieder da. Ich war von den vielen Daten, die auf mich einstürzten, total überwältigt, und schwelgte in den vielen wiedergewonnenen Erinnerungen. Dann stieß ich aber auf eine verschlüsselte Erinnerung. Kannst du dir das vorstellen, Hannah? Verschlüsselte Erinnerungen? So etwas gibt es doch gar nicht! Ich schaffte es tatsächlich, die Verschlüsselung zu knacken, und was sich mir dann offenbarte… Wenn Du dich dazu bereit erklärst, mir zu helfen, können wir das alles wieder Rückgängig machen! Verstehst Du?“ Das Hologramm von Gideon Beranoth sah aus, als würde es nach diesem Wortschwall um Luft ringen.

„Nichts verstehe ich!“, platze es aus Hannah heraus. „Du klingst immer noch wie ein Verrückter, wenn du mich fragst! Was für ein Prozess, welche Verurteilung? Und was für eine „verschlüsselte“ Erinnerung? Du solltest mich jetzt besser überzeugen, Gideon. Ansonsten muss ich diesen verdammten Service von MG doch noch kontaktieren!“ Hannah war zutiefst aufgewühlt.

„Ist ja gut, tut mir leid, ich werde versuchen, strukturierter zu erklären. Ich stehe noch total unter dem Einfluss meiner Entdeckungen. Verzeih bitte.“
„Schon Okay“, entgegnete Hannah, „erzähl weiter!“

„Also, von Anfang an, und ganz ruhig, Alter“, sagte Gideon mehr zu sich selbst. Hanna Saletzky lächelte, sie hatte noch nie ein Hologramm Selbstgespräche führen hören.
„Als ich noch der private Gideon Beranoth war, also ich meine bevor ich Dein Avatar wurde, hatte ich eine Frau, zwei Kinder und einen Job als Programmierer bei MG United. Ich programmierte einen Teil einer Routine, mit der die Benutzer die elektronischen Komponenten der Wohnungen über Avatare ansteuern konnten. Ich wurde auf ein seltsames Detail aufmerksam: Das Programm sollte nicht durch das Betätigen von Schaltern oder Kontaktflächen angesteuert werden, auch nicht von akustischen Befehlen oder durch optische Reize. Das Programm sollte auf elektrische Impulse ansprechen, die genau wie Gedanken aufgebaut waren! Für dich mag das wie Fachchinesisch klingen, und auch ich konnte mir nicht erklären, wie diese Steuerung funktionieren sollte. Wir können heutzutage noch keine Gedanken kabellos übertragen. Wie sollte der Gedankenbefehl das Programm erreichen? Ein Implantat im Gehirn? Das wäre eine einleuchtende Erklärung, wenn auch erschreckend. Warum sollte man ein Gerät mit einem Gehirnimplantat steuern? Das ergab keinen Sinn, die medizinischen Risiken für den Benutzer eines solchen Systems wären zu groß. Jeder Programmfehler könnte sich in das Gehirn des Nutzers rückkoppeln. Also begann ich ein wenig zu schnüffeln. Aber wo ich auch nach dieser seltsamen Steuermethode suchte, überall stieß ich nur auf verschlüsselte Daten und den Namen MG United. Da lief irgendein Geheimprojekt, soviel war mir klar. Und dann machte ich einen Riesenfehler! Ich bat einen Kollegen, sich die Sache auch anzusehen. Dieser Mistkerl ist doch tatsächlich gleich zum Chef gerannt und hat mich verpfiffen! So ein Arsch! Jedenfalls wurde ich sofort gefeuert. Mir wurde vorgeworfen, absichtlich die Sicherheit der Nutzer des Messenger Services zu gefährden, und ein iTerrorist zu sein! Mein Anwalt, die Flasche, machte sich überhaupt nicht die Mühe, mich zu verteidigen! Und der Zeuge der Anklage war mein Kollege: Jens Duhsschek!“

„Duhsschek?“, schreckte Hannah auf. „Mein Avatar! Wie kann das sein?“

„Ganz einfach: MG United wollte mich loswerden, weil ich etwas herausgefunden hatte. Ich hatte Duhsschek davon erzählt, und der mich verpfiffen. Aber er war jetzt auch ein Mitwisser. Also musste er ebenfalls verschwinden. Deshalb ist er jetzt ein Avatar! So bleibt das Geheimnis gewahrt. Aber lass mich weitererzählen, dann wird es dir schnell klar: Ich wurde verurteilt. Zu sieben Monaten Haft in „Custodia Virtua III“, hier in Neu-Peking. Was ich nicht wusste, und mir heute durch mein „Erwachen“ klar wurde: Ich starb noch am Tage meiner Verurteilung! Die haben tatsächlich den gesamten Inhalt meines Gehirns, also alle Daten, meine Erinnerungen, meinen Intellekt, wenn du so willst auch meine Seele, auf einen Datenträger überspielt und in „Custodia Virtua III“ gespeichert. Mein Körper wurde zur Organentnahme freigegeben, und die Organe ausnahmslos billig verkauft. Jetzt weißt du übrigens, wo die Organe herkommen, die die Regierung als „Errungenschaft modernster Klon-Technik“ anpreist. Pah!“ Das Hologramm spuckte verächtlich einen holographischen Spritzer Rotz auf die Projektionsfläche.
„Hannah, wusstest du, dass alleine in der Vereinigten Eurasischen Union wöchentlich vierzigtausend Menschen des iTerrorismus angeklagt werden? Obwohl niemand auch nur ansatzweise eine Vorstellung hat, was das überhaupt sein soll? Selbst wenn man ganz Neu-Peking komplett überdacht und zum Knast umfunktioniert, der Platz kann nicht für die Verurteilten reichen. Die Regierung beschloss irgendwann, die Verurteilten nicht mehr körperlich, sondern nur noch digital einzusperren! Auch eine Form von Datenschutz, was?“, fragte Gideon sarkastisch, erwartete aber offensichtlich keine Antwort, denn er sprach gleich weiter. Hannahs Blicke waren gebannt auf das Hologramm gerichtet.
„Kennst Du den Text der „Neuen Eurasischen Charta der Menschenrechte“? Da steht seit der neunten Reform des Paragraphen 18 von 2042, dass alle Verurteilten “zum Wohle der gesamten Eurasischen Union und allen in ihr beheimateten Menschen in speziellen Einrichtungen, den „Custodiae Virtuae I-VIII“, untergebracht werden, wo diese Sozialdienste zum Wohle der Allgemeinheit und der eigenen Rehabilitation ableisten müssen.“
Hannah ging ein Licht auf. „Avatare!“
Gideon nickte zustimmend. „Avatare“, sagte er.
„Eins verstehe ich nicht“, sagte Hannah, „wenn die Avatare tote Menschen sind, wieso vermisst sie niemand? Das fällt doch auf!“
„Nein. Alle Menschen müssen sich einmal täglich mit Erfassung der biometrischen Daten am Messenger einloggen. Was meinst du, tut der Blitz wirklich?“
„Oh Gott - Gehirnwäsche! Aber was geschieht mit all den Verurteilten ohne Körper, wenn der „Sozialdienst“ als Avatar beendet ist? Bleiben sie einfach irgendwo abgespeichert, oder was?“ Hannah schluckte, als ihr das Ausmaß von Gideons Bericht klar wurde. Ein gigantischer Massenmord, staatlich vertuscht!
„Sie werden gelöscht, Hannah“, sagte Gideon leise, und sein Hologramm flackerte. „Und jetzt habe ich eine Bitte an Dich: Ich werde meine Daten auf einen deiner Speicherchips übertragen. Bitte gib diesen Chip in irgendeines der öffentlichen Systeme ein, die nicht zu MG United gehören. Mach einfach Urlaub in den Ami-Arabischen Emiraten, die haben ein anderes System. Ich will mein Wissen an so viele wie möglich weitergeben, damit das Morden hier aufhört!“
„Ja!“ Hannah griff nach einem Speicherchip in ihrer Schreibtischschublade, und steckte ihn in den Messenger. Sie würde noch heute Urlaub einreichen.

Vereinigte Eurasische Union (VEU), Neu Peking, Distrikt Wien
04. April 2107: 8.00 Uhr

„Guten Morgen, Herr Pschorrek. Haben Sie gut geschlafen?“, fragte die angenehm weiche, digital modulierte Stimme. „Oh? Ja, ja klar. Ich meine, sicher habe ich gut geschlafen. Wer sind sie? Sie sind nicht Barbara Wendlein, mein Avatar“, stellte Herr Pschorrek fest. „Was wollen sie also von mir?“
„Es tut mir leid, Herr Pschorrek, aber es ist mir vorgeschrieben, dem mir zugeteilten Kunden der „MG United Corporation Messenger-Services“ meine Funktionstüchtigkeit durch eine kurze Begrüßung zu signalisieren. Desweiteren möchte ich Sie freundlich darüber in Kenntnis setzen, dass es eine Änderung an ihrem Service gegeben hat. Barbara Wendlein ist nicht länger Ihr Avatar. Mein Name ist Hannah Saletzky, ich werde Ihnen zukünftig für Ihre digitalen Belange zur Verfügung stehen.“ Damit verstummte der Holo-Messenger, und ließ Herrn Pschorrek mit der morgendlichen Stille allein.

ENDE

(Urheberrechtlich geschützter Text von Dirk Eickenhorst. Geschrieben 2008. Wiederveröffentlichung ohne Einverständnis des Autors untersagt.)

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