nummer neun

1. Genesis

(Planet: Crest VII, 23. Juli 2207 neue Präfekturzeit)

Alles was war, endete. Alles nahm einen neuen Anfang. Nichts war wie zuvor.

Die empfindungslose Geborgenheit, die beruhigende Sicherheit des Nichts, wich der ersten bewusst wahrgenommenen Empfindung: Kälte.

Das Wesen öffnete die Augen. Zum allerersten Mal. Das Licht traf auf seine Pupillen, überforderte die Sehnerven. Zunächst nahm es daher nichts wahr, außer einer undurchdringlichen, weißen Wand. Die Kälteempfindung verstärkte sich noch, als der Rest der Flüssigkeit, in welcher es seine bisherige Existenz gefristet hatte, in einem sanften Luftstrom verdunstete. Als die Haut trocken war, verlor sich auch der kühlende Effekt der verdunstenden Flüssigkeit. Und so spürte das Wesen zum ersten Mal Wärme. Seine Augen hatten sich in der Zwischenzeit an die Lichtverhältnisse gewöhnt, und es konnte zum ersten Mal etwas sehen. Es selbst war nackt, befand sich in einem Raum, der weder Fenster noch Türen hatte. Das Licht wurde nicht etwa von Lampen abgegeben, sondern es strahlte direkt und gleichmäßig von den Wänden ab. All dies nahm das Wesen aber nicht wissentlich wahr, denn es wusste nichts. Außer vielleicht der Tatsache, dass es
selbst existierte.

Das neugeborene Wesen lag eine Zeit lang da; es wusste nicht, wie lange. Eine neue Empfindung erwachte in der hilflosen Kreatur. Hunger. Das Wesen wurde unruhig. Diese Empfindung war nicht angenehm. Das Wesen begann, unruhig zu werden. Es bewegte weitestgehend unkoordiniert, aber zum ersten Mal bewusst, seine Gliedmaßen. Dann begann es, ebenfalls zum ersten Mal, zu schreien. Instinktiv, nicht auf einer Erkenntnis beruhend, presste es die Atemluft durch die Stimmritzen. Und tatsächlich, das Schreien schien eine Wirkung zu zeitigen. Die Luft in dem Raum ohne Fenster und Türen begann zu flirren, und ein anderes Wesen erschien aus dem Nichts; in weiß gekleidet, nicht größer als das Neugeborene selbst. Die weiß gekleidete Erscheinung bewegte sich auf das schreiende Wesen zu, griff nach seinen Schultern, zog seinen Oberkörper etwas hoch, und schleifte es zu einer der Wände des Raums. Dort angekommen, wurde die immer noch schreiende Kreatur wieder auf dem Boden abgelegt. Der Mann in weiß löste einen Mechanismus an der Wand aus, und griff nach dem nun erscheinenden Gegenstand. Es war ein Kabel mit einer Art Steckverbindung am Ende. Er
betastete die Nackenregion des Schreienden, nickte zufrieden, und drückte den Stecker mit entschlossenem Blick und einem gehörigen Kraftaufwand durch die Haut des anderen. Es knackte, gut vernehmbar. Und wieder lernte das Wesen eine neue Empfindung kennen, die den Hunger schlagartig, wenn auch nur kurz, beiseite wischte: Schmerz. Das Neugeborene verzog kurz das Gesicht, quiekte laut, und wollte gerade anfangen zu schreien, als es zu verstehen begann.

Jetzt wusste es zum ersten Mal etwas! Das Wissen kam aus dem Ding, welches in seinem Nacken steckte. Ihm wurde irgendwie klar, dass er nun keine Angst mehr zu haben brauchte, denn ihm würde nichts Schlechtes widerfahren. Er brauchte nun nicht mehr zu schreien, denn sein Hunger würde gestillt werden. Dazu musste er nur an der Vorrichtung an der Wand, welche in einer für ihn angenehmen Höhe angebracht worden war, saugen. Der Schmerz war schlagartig verschwunden. „Dir wurde eine Medizin gegen die Schmerzen verabreicht“, teilte ihm der Stecker lautlos mit, obwohl der so belehrte noch nicht einmal wusste, was eine Medizin überhaupt war. Aber auch dass und noch vieles mehr würde er erfahren, nachdem er seinen Hunger an der Apparatur gestillt habe. Plötzlich wurde dem Wesen klar, dass es einen Namen hatte: Es war die Bezeichnung „24.111.968“!
24.111.968 begann zu essen. Nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, begannen schlagartig wieder die Schmerzen. Aber er kam dieses Mal nicht dazu, das Gesicht schmerzerfüllt zu verziehen oder gar zu schreien. Dieses Mal war eine gnädige Bewusstlosigkeit schneller als die Reizleitung zwischen seinen Schmerzrezeptoren und seinem Gehirn …

2. Nummer neun

Kaser Benathul blickte nur kurz von seinem Monitor auf, um seinen nur wenige Meter entfernt arbeitenden Kollegen zu informieren. „Er hat gegessen. In wenigen Minuten beginnt die Implementierung der Programmroutinen.“ Er erwähnte es fast beiläufig. Dieser ganze Vorgang war Routine für die beiden Wissenschaftler, die diese Prozeduren schon so oft koordiniert und überwacht hatten, dass sie vor vielen Jahren damit aufgehört hatten, sie zu Zählen. Der andere der beiden Wissenschaftler verzog leicht angewidert das Gesicht. Brayton Alsharfe, so hieß der Mann, war in etwa gleich alt wie sein Kollege und einen Kopf kleiner.

„Sag nicht jedes Mal „er“ oder „sie“ zu den Spendern. Du weißt genau, dass das von der Präfektur nicht gern gesehen wird! Keine Vermenschlichung der Spender! Es handelt sich lediglich um seelenlose Klone, zur Gewebespende und Nahrungsgewinnung hergestellt. Jegliche Regung, jegliches Wissen rührt ausschließlich von der durch uns durchgeführten Implementierungsroutine her.“
„Ja ja, ich weiß. Du musst mich nicht jedes Mal darauf hinweisen“, entgegnete Benathul. „Ich hab das ganze schon tausendmal gehört, hunderte Male gelesen, -zig Mal in der Hypnoschulung durchgekaut, und Du erinnerst mich auch fast jeden verdammten Tag daran! Ich kann es auswendig beten: Vor vielen Jahrhunderten, auf der Erde schrieb man damals das Jahr 2168, trafen die höchsten Mitglieder der Präfektur zusammen mit ihren Familien und den letzten Siedlern von der Erde auf Crest VII ein. Dabei wurde trotz strengster Hygienevorschriften ein bis dahin unbekannter Krankheitserreger eingeschleppt, der alle Frauen an Bord befiel. Die Folge war Unfruchtbarkeit. Für die Siedler, unsere Vorfahren, war dies zwar tragisch, aber nur ein vorübergehendes Problem, da die bereits zuvor auf Crest VII eingetroffenen Frauen von der Erkrankung nicht betroffen waren. Der Krankheitserreger konnte isoliert und vernichtet werden. Für die Familien der Präfektur aber war das Problem existenziell; Fortpflanzung war den Familien nur untereinander erlaubt. Die Gesetze verlangten es so. Und so wurde eine längst wegen der ethischen Problematik ad Acta gelegte Technik wieder eingeführt: Das Klonen von Menschen zum Zwecke der Organ- und Gewebespende. Die Spender, aus Stammzellen der Präfekturangehörigen geklont, werden seither in einer speziellen Nährlösung unter Zuhilfenahme von synthetischen Wachstumsbeschleunigern innerhalb weniger Monate hochgezüchtet, bis sie organisch nahezu ausgewachsen sind. Zu keinem Zeitpunkt nehmen die Spender etwas bewusst wahr, jede Empfindung wird medikamentös unterdrückt. Man kann sie sich als eine Art Ersatzteillager mit Herzschlag vorstellen, und doch kann man nicht von Leben sprechen. Dann werden sie aus der Flüssigkeit herausgeholt, und allein zum Zwecke der einfacheren Handhabung mit unserer Programmroutine ausgestattet. So erhalten die Spender ein ideologisch aufbereitetes Wissen um ihren Verwendungszweck, damit sie gerne kooperieren. Dieses Wissen und das gesamte implementierte Bewusstsein halten aber technisch bedingt nur wenige Stunden, und daher müssen die Spender möglichst schnell der weiteren Verwertung zugeführt werden. Die benötigten Organe und Gewebeanteile werden entnommen und den Mitgliedern der Präfektur eingepflanzt, die ein neues Organ, Haut oder sogar Knochen benötigen. Nur so konnten die Mitglieder unserer Regierung und deren Familien über die Jahrhunderte bis heute im Amt bleiben, wie Du weißt. Und was von den Spendern nicht zur Organ- und Gewebespende benötigt wird, wird in nicht allzu komplizierten Fermentierungsverfahren aufbereitet und zur Ernährung der nachfolgenden Klone verwendet. Nummer 24.111.968 stillt gerade seine Nahrungsbedürfnisse damit. Eigentlich ein perfektes Verfahren.“

Kaser Benathul beendete seinen Vortrag, und bereitete einige abschließende Schaltungen an den Anlagen vor. Was er seinem Kollegen, der ihm schon lange nicht mehr zuhörte, nicht erzählte, war folgendes: Bereits bei den acht Klonen vor Nummer 24.111.968 hatte er die Programmierung „leicht“ abgewandelt. Die Spender bekamen nicht mehr die Gewissheit eingepflanzt, der einzig guten Sache zu dienen, und sie empfanden es auch nicht mehr als größte Ehre. Vielmehr wurden sie nun mit der Gewissheit konfrontiert, für die körperlichen Bedürfnisse einer dekadenten und ethisch zutiefst verdorbenen, so genannten Elite ihr Leben geben zu müssen, obwohl sie ihnen biologisch gesehen ebenbürtig, gesundheitlich mit Sicherheit sogar weit überlegen waren. Dieses Wissen hatte allerdings bislang bei den Klonen nur Panik ausgelöst, der letzte setzte in einem Anfall rasender Wut seinem Leben selbst ein Ende. Um das bei Nummer neun, so nannte er den aktuellen Spender insgeheim, zu verhindern, hatte er ihm als kleines „Bonbon“ eine klare Zukunftsperspektive gegeben; er hatte ihm das Wissen um einen möglichen Fluchtweg in ein freies Leben implementiert. Der Wissenschaftler erhoffte sich damit, der in seinen Augen pervertierten Praxis, das Leben der Präfekten durch Organentnahmen praktisch grenzenlos zu verlängern, ein Ende bereiten zu können. Das Universum da draußen musste von dieser ganzen Schweinerei erfahren!

„Du kannst Dich auf den Weg machen, ich starte jetzt den Ladevorgang. In zwei Minuten ist unser Spender bereit zur Entnahme.“, sagte Kaser Benathul zu seinem Kollegen, der daraufhin leise vor sich hin grummelnd in Richtung des Transmitters verschwand, der ihn wieder in den weißen Raum ohne Fenster und Türen bringen würde, wo er erst kurz zuvor den Spender an den Zugang zur Datenverarbeitungsanlage angeschlossen hatte. Der Spender wiederum, der sein „Mahl“ soeben beendet hatte, brach genau in diesem Moment bewusstlos zusammen, als sein Gehirn mit Daten geflutet wurde …

3. Exodus

Alles was war, endete. Alles nahm einen neuen Anfang. Nichts war wie zuvor.

Dieses Mal wusste er. Das Wissen war wie ein Tsunami in sein gerade erst neu erworbenes Bewusstsein eingedrungen und hatte alles fortgespült, was existierte. Das neue Wissen war anders, nicht vergleichbar mit der tumben Glückseligkeit der ersten Momente. Allem voran stand die Gewissheit, eine neue, andere Zukunft zu haben. Er hatte eine Bestimmung. Er war Nummer neun, und er würde den bislang nach außen hin verdeckten Massenmord an seinen Geschwistern beenden! Schwach echote noch eine verblassende Gewissheit in ihm, er dürfe seine Existenz der Präfektur widmen und er meinte, sich erinnern zu können, dass diese Gewissheit ihm höchste Glücksgefühle verschafft hatte. Jetzt war alles ganz anders. Ihm war jetzt klar, dass er nur als willenloses Ersatzteillager für eine Gruppe von Menschen dienen sollte, die schon vor vielen Jahrhunderten aus reiner Machtgier und der Unfähigkeit, die selbst aufgestellten Gesetze zu verändern, jede Moral und Menschlichkeit über Bord geworfen hatten. Sie wollten ihn töten! Und er konnte, er durfte das nicht zulassen! Ihm war plötzlich klar, dass er einen Weg aus diesem Raum ohne Fenster und Türen finden musste. Er musste irgendwie Crest VII verlassen, oder zumindest eine Botschaft nach außen hin senden, obwohl er noch keine Ahnung hatte, wie das von Statten gehen könnte. In diesem Augenblick begann erneut die Luft im Raum zu flimmern, und aus dem Nichts heraus erschien, zunächst wabernd und verzerrt, die Gestalt von Brayton Alsharfe, dessen Namen Nummer neun wusste, ohne ihn je gehört zu haben. Alsharfe würdigte Nummer neun keines Blickes, zog wortlos den Stecker aus seinem Nacken, griff ihm grob unter die rechte Achsel und zerrte an dem Mann. Nummer neun folgerte daraus, der Mann wolle ihm zum Aufstehen bewegen, und er wunderte sich, warum der Mann im weißen Kittel ihn nicht einfach darum bat. Dann wurde ihm klar, dass der Wissenschaftler vermutlich von seiner Fähigkeit, sich per Sprache zu verständigen, gar nichts wusste. Dieser Mann, Brayton Alsharfe, stand demnach nicht auf seiner Seite. Nummer neun beschloss, auf der Hut zu sein. Er stand auf, ließ sich von Alsharfe führen, der nach wie vor wortlos zu Werke ging. Nummer neun wurde in die Mitte des Raumes geführt. Alsharfe berührte mit der rechten Hand eine Stelle auf der linken Seite seines Kittels, etwa in Brusthöhe. Nummer neun konnte zwar nichts Ungewöhnliches erkennen, die Luft roch aber plötzlich anders. Hätte er das nötige Wissen gehabt, hätte er den Geruch als den von Ozon identifiziert. Brayton Alsharfe packte Nummer neun am Arm, sagte, mehr zu sich selbst: „Na, dann mal los“, und zerrte den vermeintlich willenlosen Spender ruppig in das Transmitterfeld.

Nummer neun befand sich nun in einem anderen Raum. Dieser hatte zwar kein Fenster, dafür aber eine Tür. Diese war nicht einmal verschlossen, und ermöglichte ihm den Blick in den Nebenraum. Eine der Wände dieses Raums bestand aus einem transparenten Material, und er erkannte die Planetenoberfläche und den Himmel von Crest VII. Nummer neun wusste, dass Crest VII keine für ihn atembare Atmosphäre besaß. Die Siedler, die hier weit von der Erde entfernt in ihrem selbst auferlegten Exil lebten, hatten ihre Siedlung mit einem Schutzschirm gegen die Methanatmospähre des Planeten geschützt, und sich innerhalb dessen Strahlungsbereichs ein erdähnliches Biotop geschaffen. Am Himmel erkannte er entfernt den Umriss eines Raumschiffs, das nicht den Siedlern gehörte. Er wusste dies, weil die Siedler sich selbst versorgten, und keinerlei Kontakt zur „Außenwelt“ pflegten. Woher Nummer neun dies alles wusste, das entzog sich seiner Kenntnis. Er wusste es eben. Und es war ihm klar, dass er dieses Schiff erreichen musste, wollte er seine Mission erfüllen, deren erfolgreicher Abschluss das Ziel seiner Existenz zu werden begann.

Brayton Alsharfe schaffte es wie immer irgendwie, den nackten Mann auf den OP-Tisch zu legen, und wie immer gab es keinerlei Gegenwehr. Ohne jede Gefühlsregung nahm er einige Schaltungen an der Apparatur vor, die in wenigen Augenblicken damit beginnen würde, den Körper des Spenders zu verwerten. Benötigte Organe und Gewebeteile würden steril entfernt und direkt per Transmitter in den Operationssaal nebenan gebracht, wo bereits ein Angehöriger der Präfektur auf die perfekt für ihn hergestellten Ersatzteile wartete. Für schmerzstillende Medikamente oder sogar eine Narkose gab es keine Notwendigkeit, denn die Fähigkeit der Schmerzreizverarbeitung wurde den Spendern nicht implementiert. Normalerweise. Aber das hier nichts mehr normal war, wurde Alsharfe in dem Moment klar, als der Spender plötzlich vom OP-Tisch aufsprang und ihm einen Schlag ins Gesicht verpasste. Der Wissenschaftler war nur kurz benommen und unfähig zur Gegenwehr, aber diese Zeit reichte Nummer neun vollkommen. Mit traumwandlerischer Sicherheit nahm er schnell einige Schaltungen an der Steuerung der Operationsanlage vor, und stieß Alsharfe auf den Tisch. Sofort drückte das Fesselfeld, welches Nummer neun soeben aktiviert hatte, den vor Angst stummen Wissenschaftler fest auf den Tisch. Kurz darauf fand Brayton Alsharfe zum letzten Mal seine Sprache wieder, und er schrie, während ihm vollautomatisch beide Nieren entnommen wurden. Nummer neun hielt es nicht länger in diesem Raum. Er griff nach dem erstbesten schweren Gegenstand, der ihm in die Finger kam, rannte in den Raum mit der transparenten Wand und schleuderte mit aller Kraft den Gegenstand dagegen. Mit einem erstaunlich leisen Geräusch, das wie das Reißen eines Stoffes klang, drang das von Nummer neun geworfene Teil durch das Fenster. Die Atmosphäre entwich, und riss ihn mit sich in die Welt hinaus, in der es für ihn keine Luft zum Atmen gab. Er fing sich, und rannte darauf los, bis ihm die Sinne schwanden. Das letzte, was Nummer neun bewusst wahrnahm, waren drei rote Augen und vier Arme, die nach ihm griffen.

Alles was war, endete. Dieses Mal gab es keinen neuen Anfang. Nichts war mehr.

(Urheberrechtlich geschützter Text von Dirk Eickenhorst. Geschrieben 2007. Wiederveröffentlichung ohne Einverständnis des Autors untersagt.)

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