Kurzgeschichte: Das toleranteste Land

„Frau Onke-Weeke bitte?", tönt die Sprechanlage. Ich fühle mich nicht angesprochen. Ich erwarte mein Vorstellungsgespräch in einer bekannten Kölner Werbeagentur, bei der ich mich als Grafikdesignerin beworben habe. Keine der Bewerberinnen steht auf.
Eine Minute verstreicht.
„Frau ...", die Stimme zögert, ein Räuspern.
„Ong-Jeck-Wecke?"
Mir dämmert, dass ich gemeint bin. Die anderen Frauen sehen nicht nach einem Namen aus, der die Personalleiterin der Werbeagentur überfordert. Dennoch schaue ich die Frauen fragend an.
Diese verstehen mich offenbar, denn sie sagen brav ihre Nachnamen auf.
„Müller", sagt die Blonde mit dem etwas zu gewagten Ausschnitt.
„Berberich", flüstert die hübsche Pixie-Cut-Trägerin mit den Sommersprossen.
„Ungewaschen-Schnäbler", sächselt die rothaarige Frau mit der sympathischen Ausstrahlung.
Die letzte Bewerberin tut, als hätte sie überhaupt nichts mitbekommen, starrt stattdessen aus dem Fenster, als fasziniere sie der schick umgebaute Kölner Hafen über alle Maßen.
Ich stehe auf und eile zu der Tür, die sich gerade öffnet. Ein freundlich lächelnder Mann in den Vierzigern steht im Türrahmen und bedeutet mir einzutreten. Nervös trete ich durch die Tür und steuere gleich den einzigen freien Stuhl im Raum an. Mir sitzen drei Personen gegenüber. Alle lächeln ein bisschen zu breit.
„Nun, Frau ..."
Schon wieder dieses dämliche Zögern. Die haben doch meine Bewerbung seit Wochen vorliegen, da hätten sie den Namen ja üben können, wenn er ihnen so schwer über die Lippen kommt.
„Frau ... ähm ...", setzt die Dame erneut an und zögert dann schon wieder.
„Onke-Jeck ..."
Es ist ihr dritter, erfolgloser Versuch. Erneut starrt sie angestrengt auf ihre Unterlagen. Ich will ihr gerade aus­ helfen und meinen Namen sagen, hole bereits tief Luft, da höre ich diesen unmöglichen Satz.
„Ach, was auch immer, es freut uns sie kennenzulernen."
Die Freude auf meiner Seite ließ da bereits etwas nach. Die gibt sich noch nicht einmal die Mühe, mich einfach danach zu fragen, wie mein Name ausgesprochen wird.
Ich verrate ihr den offensichtlichen Zungenbrecher trotzdem.
„Mein Name ist lyobosa Onyejekwe".
Ein undefinierbarer Ausdruck entströmt den Gesichtern mir gegenüber, dann setzen die drei wieder ihr Lächeln auf wie eine zu groß geratene Maske.
Der Mittvierziger zu meiner Linken, der mir die Tür geöffnet hat, übernimmt die Moderation.
„Mein Name ist Gernot Basinger, ich bin der Executive Director der Agentur, die Dame in der Mitte ist unsere Staff Executive, Frau Krankmauser. Und zu ihrer Rechten sitzt Herr Frentzen, er wird - vielleicht - als Creative Director ihr direkter Vorgesetzter sein."
Ich nicke, lächele alle drei freundlich und - wie ich hoffe - gewinnend an.
Die drei rissen ihre Mundwinkel himmelwärts, als litten sie unter einem kollektiven Gesichtskrampf.
„Dann wollen wir das Gespräch entspannt beginnen. Zunächst gestatten sie uns bitte, ihnen ein, zwei allgemeine Fragen zu stellen, bevor wir uns mit ihren Referenzen auseinandersetzen."
Zur Bestätigung nicke ich freundlich.
„Wo genau kommen sie her, wenn ich das fragen darf?"
„Sie dürfen. Ich komme aus Düsseldorf. Steht auch in den Bewerbungsunterlagen."
Das Lächeln von Herrn Basinger flackert kurz, wie eine Kerze bei geöffnetem Fenster, dann fängt es sich wie­der.
„Sie verstehen schon, was ich meine, von woher stam­men Sie ursprünglich?"
Ich glaube ich sitze im falschen Film, was soll das denn jetzt? Diese Frage stellt man mir andauernd, selbst an der Supermarktkasse. Es kotzt mich an, mich vor jedem dahergelaufenen Schnulli für meine Herkunft rechtfer­tigen zu müssen. Was soll das überhaupt bezwecken? Ist es eine nettere Form, mir zu sagen, ,Du gehörst hier nicht hin, also geh doch bitte dorthin zurück, wo immer du auch herausgekrochen bist?'
Bleib cool, lyobosa. Du willst diesen Job.
„Ich lebe in Düsseldorf und bin auch dort geboren, im Uniklinkum, um genau zu sein."
Es dauert ein, zwei Sekunden, bis sich Basingers Ge­sicht wieder sortiert.
„Ich formuliere es anders", sagt er. Hinter seiner Stirn arbeitet es fast spürbar. „Wo wurden ihre Eltern gebo­ren, Frau Ohnejeckweck?"
Ich schlucke, entscheide mich dann aber dagegen, die fortgesetzte Verballhornung meines Namens zu kommentieren. Eines Tages lernt er es noch, hoffe ich.
„Meine Mutter in Düsseldorf, mein Vater in Münster."
,Wie genau betrifft das bitte meine Bewerbung?', hätte ich ihn am Liebsten gefragt. Ich verkneife es mir aber. Schließlich will ich wirklich diesen Job.
„Sie müssen verstehen, dass bei einem so fremdländischen Namen und ihrem exotischen Aussehen - mit allem Respekt, versteht sich - Interesse bezüglich ihrer Herkunft besteht", versucht es der Frentzen noch ein­mal.
Ja klar, muss ich verstehen. Nicht. Mal sehen, woher die Negerin kommt. Ich dachte echt, gerade in Werbeagenturen denke man da moderner, globaler. Immer dieselbe unterschwellige, rassistische Scheiße. „Wo liegen denn ihre ethnischen Wurzeln?", flötet die Krankmauser.
Ich fasse diese Frage nicht. Same Song, different Melody. Bleib ruhig Onye, du willst den Job haben.
Ich atme zweimal tief ein und aus.
„Die Eltern meiner Mutter stammen aus Nigeria, die Eltern meines Vaters aus dem Kongo. Meine Eltern, meine Geschwister und ich sind allesamt Deutsche."
„Ihr Migrationshintergrund spielt für uns selbstverständlich keinerlei Rolle und hat auch keinerlei Einfluss auf eine Entscheidung für oder gegen sie als Bewerberin", fügt Gernot Basinger hinzu.
Sicher. Und weil es keinerlei Rolle spielt, dreht es sich bis jetzt um nichts Anderes.
„Kriegsflüchtlinge?", fragt die Krankmauser mit mütterlich-glubschäugigem Gesichtsausdruck, „oder Wirtschaftsmigranten? Mann liest ja so viel darüber."
Ich. Fasse. Es. Nicht. Das Gegenteil von gut ist gut ge­meint. Ein klassischer Facepalm.
Es nervt mich extrem, trotzdem halte ich den verdammten Vortrag.
Ich. Will. Diesen. Job.
„Nein, nichts davon trifft zu. meine Großeltern sind aus ihren Heimatländern über ein Studentenaustauschprogramm nach Deutschland gekommen. Nach dem Studium sind sie geblieben, haben die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und sich hier etwas aufgebaut. Mein Großvater mütterlicherseits ist Biologe, seine Frau, meine Großmutter, Theologin. Die Großeltern väterlicherseits sind beide Psychologen mit einer Praxis in Düsseldorf. Meine Eltern haben sich während des Studiums kennengelernt und verliebt. Schließlich sind sie in Düsseldorf zusammengezogen. Sie heirateten, dann kam ich ins Spiel. Meine Mutter ist Chirurgin und mein Vater Ingenieur im Bauwesen." Die ungläubigen Mienen der drei Agenturvertreter verraten mir, dass sie ernsthaft die Möglichkeit in Erwägung ziehen, ich tische ihnen eine Lügengeschichte auf. Frau Krankmauser macht sich Notizen. Frentzen und Basinger glotzen mich mit halboffenen Mündern an, als fielen sie beide gleichzeitig einem Dementor aus Hogwarts zum Opfer. Ich versuche die Situation aufzulockern, wechsele das Thema.
„Wie wär's, wenn wir jetzt meine Mappe durchgehen? Ich habe Referenzen und Beispielarbeiten darin", frage ich aufmunternd in die Runde. Ich möchte diesen Job. Nach meiner Präsentation warte ich wieder draußen. Die Mitbewerberinnen haben ihre Chancen. Nach zwei Stunden bleiben der schüchterne Pixie-Cut namens Berberich und ich übrig. Wir erhalten einen neuen Termin.

Das zweite Gespräch beginnt angenehm. Herr Basinger hat meinen Namen geübt und bietet mir kumpelhaft-jovial das „Du" an.
„Ich bin der Gernot, aber alle nennen mich Gerry." „Angenehm, ich bin lyobosa."
Jetzt rezitieren die anderen ihre Vornamen - Frau Krankmauser ist eine ,Uta‘ und der Frentzen ein ,Dieter-Olaf‘.
Dann spricht mich Uta an.
„lyobosa klingt japanisch. Sind japanische Namen in Afrika beliebt?“
Diese Frau macht mich wütend. Wieso muss sie darauf rumreiten, dass ich nicht „typisch deutsch“ aussehe und heiße? Was ist ihr Problem?
„Keine Ahnung, was in Afrika in ist oder nicht, ehrlich. Ich habe Afrika nie besucht. lyobosa ist nigerianisch und bedeutet „Gott hilft". Meine Mutter gab mir den Namen aus Dankbarkeit, weil sie hier in Deutschland ihr Glück fand."
„Ist das aber eine schöne Geste", flötet Uta.
Am Ende des Termins habe ich den Job. Ich freue mich, hoffe aber, diese drei während der Arbeit selten zu sehen. Nach den feierlichen Handshakes fehlen noch die warmen Abschiedsworte, die Gerry übernimmt.
„... und wir freuen uns auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit dir, Oyabasu. Und du kannst dich freuen, in einer der führenden Werbeagenturen im vielleicht tolerantesten Land der Welt zu arbeiten. Darauf sind wir ein bisschen stolz."

Spontan fällt mir das Datum des heutigen Tages ein. Es ist der 9. November. Ich stelle mir die toleranten Deutschen vor, wie sie Synagogen in Brand stecken, Millionen von Juden, Roma und Sinti, behinderte und Menschen mit anderen Weltanschauungen auslöschen. Ich denke an Hoyerswerda, Pegida, die AfD, höre wieder die Sprüche in der U-Bahn.

„Guck dir die an, die Afro-Weiber haben alle dicke Kisten!"
Zwei Mädchen, vielleicht fünfzehn, kichern. Der Kerl neben ihnen starrt mir unverhohlen auf den Hintern, zwinkert, nickt anerkennend. „Passt schon!"
Ich erinnere mich an die Schmiererei am Gartentor meiner Eltern, „dreckige Nigger raus!" Mir ist klar, dass daran nicht alle Schuld tragen. Zu solchem Gräuel sind heute nur wenige Deutsche fähig oder bereit. Aber es gibt sie, die Unbelehrbaren. Schlimm genug.
„Ja, ich freue mich", antworte ich dem Gernot. Dann gehe ich.

Ich trete diese Stelle nicht an. Gewollte Toleranz gepaart mit diffusem Alltagsrassismus halte ich nicht aus. Ich mache mich mit Studienfreunden selbständig. Wir sind drei deutsche Staatsbürger. Wir arbeiten in Deutschland, verbringen unsere Freizeit hier, haben unsere Freundinnen und Freunde hier. Wir leben hier, wir lieben hier. Mit Euch. Aber während wir uns wie euch als Deutsche verstehen, die dieses Land lieben, so sehr, dass wir unsere gesamte Zukunft hier mit unseren Familien verbringen wollen, bleiben wir für die meisten von euch immer noch „die Afrikaner", „die Türken" und „die Chinesen". Im Jahre 2017 im wohl tolerantesten Land der Welt.

(Urheberrechtlich geschützter Text von Dirk Eickenhorst. Geschrieben 2019. Wiederveröffentlichung ohne Einverständnis des Autors untersagt.)

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